Leben mit Migräne (Betroffene, Name der Redaktion bekannt)
1975 wurde ich in eine Eisenbahnerfamilie geboren.
Mein älterer Bruder und ich waren von Kind auf mit der Eisenbahn verbunden. Zuerst bei der Pioniereisenbahn, später er als Lokführer und ich Zugbegleiterin.
Eisenbahner heißt Schichtarbeiter, aber irgendwie habe ich mich damit gut arrangiert.
Meine Erinnerungen an Migräne beginnen, als ich ca. 10 Jahre alt war. Ich war im Schulhort, hatte Kopf- und Bauchschmerzen, erbrach mich. Wir wollten auf einen Ausflug. Damals wohnte ich an der Straßenbahn Haltestelle und durfte so nach Absprache mit meiner Mutter an diesem Nachmittag zu Hause bleiben. Ich weiß noch, meine Mutter und ich legten uns zusammen hin, weil auch ihr es nicht gut ging.
Meine Mutter, meine Tochter und ich haben Migräne. Am schwersten betroffen bin ich. Trotz ihres Alters Mitte 70 hat meine Mutter immer noch gelegentlich kleine Anfälle. Meine Tochter zum Glück relativ selten. Ich wünsche ihr sehr, dass es so bleibt.
Ich machte meine Ausbildung bei der Bahn. Arbeitete erst als örtliche Aufsicht, hielt den grünen Signalstab in der Hand. Nach Personalabbau war ich Zugbegleiterin bis zur Geburt meiner Tochter. In Schichten zu arbeiten, fand ich damals als junge Frau nicht schlimm. Auch mit Kopfschmerzen. Ich war sehr gut im Verdrängen.
Erinnern kann ich mich aber, dass ich während einer Zugfahrt immer wieder das WC aufsuchen musste. Heute frage ich mich mehr und mehr, warum tat ich mir diese Qual an?
Während der Schwangerschaft hatte ich deutlich weniger Migräne. Aber die lange, schwere Geburt löste einen schweren Anfall aus. Damit ich meine Tochter stillen kann, sollte ich keine Medikamente einnehmen. Erst als ich vorm Schwesternzimmer vor Schmerzen und Erschöpfung zusammenbrach, wurde mir ein Flüssigkeits- und Medikamententropf gelegt. Meine Tochter konnte ich da nicht stillen. Zukünftig pumpte ich Muttermilch vorsorglich ab, die sie bekam, wenn Migräne mich vom Stillen abhielt.
Nach der Elternzeit und dem Personalabbau bei der Bahn, begann mein Arbeitsabschnitt als ungelernte Arzthelferin. Wenn man glaubt, Ärzte haben Verständnis, so irrt man sich. Auch hier blieb ich nicht zu Hause, wenn ich Migräne hatte. Selbst am Tag nach einer schweren Attacke mit Tropf und Medikamentencocktail ging ich arbeiten. In dieser Zeit sammelte ich leider die meisten, bitteren Erfahrungen.
Was ich mir dennoch „traute“, waren zwei Rehas in Heringsdorf. Dort bekam ich die HBO, spezielle Sauerstoffbehandlungen. Diese und das ganze Zusammenspiel mit der Kältekammer, Entspannung, laufen am Meer und allgemein raus aus dem Alltag halfen mir damals sehr. Inzwischen bietet die Klinik keine HBO mehr an und Ärzte sind überfordert mit Migränepatienten, was ich sehr bedauere. Ich fühlte mich immer sehr wohl und umsorgt im Haus Kulm.
Wenn man in einer Arztpraxis arbeitet (und sicher nicht nur dort), muss man funktionieren. Das Team braucht einen.
Ich habe funktioniert. Nicht auf mich geachtet, mich nicht geschont. Die schweren Anfälle kamen zum Glück selten und natürlich am Wochenende.
Inzwischen arbeite ich nicht mehr als Arzthelferin, sondern als soziale Betreuung. 25h im Pflegeheim und zusätzlich rund 5h/Woche im Nebenjob. Den Zweitjob kann ich selbst einteilen. Ich sage meinen Klienten ab, wenn es mir gar nicht gut geht.
Dass ist ein Vorteil, ich entscheide. Der Nachteil an der kleinen Selbstständigkeit, bin ich krankgeschrieben, fehlt mir das Geld. 25h im Pflegebereich reicht nicht für den Lebensunterhalt.
In der Festanstellung habe ich gute Chefs und ein nettes Team. Ich fühle mich verstanden.
Wie geht’s mir jetzt?
Die Kleinhirnblutung vor rund einem Jahr habe ich gut überstanden. Auch ohne erkennbare, neurologische Ausfälle.
Seit 18 Monaten spritze ich Antikörper. Die Anfälle haben sich von 15-20 deutlich auf 6-10 reduziert. Das ist eine wahre Lebensverbesserung. Leider wirkt das Sumatriptan schlechter. Ich teste mich mit anderen Triptanen durch.
Anfang des Jahres war ich zur Reha in Plau am See, eine neurologische Klinik. Jede Reha ist eine Chance zu lernen mit Migräne umzugehen. Ein erneut gestellter Teilerwerbsminderungsantrag wurde mir nun zugesprochen.
Es beginnt mit Ende des Fünfzigsten Lebensjahr ein neuer Abschnitt. Ich bekomme Zeit durchzuatmen, versuche nicht mit Schmerzen arbeiten zu gehen und möchte bewusst mehr Entspannungen erlernen.